Politische Soziologie (www.boox.bz) by Luhmann Niklas
Autor:Luhmann, Niklas [Luhmann, Niklas]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Suhrkamp Verlag
veröffentlicht: 2015-05-17T16:00:00+00:00
V. Teil
Publikum
22. Kapitel
Ausdifferenzierung von Publikumsrollen
Die politischen Systeme der neuzeitlichen Gesellschaften sind, das haben die Untersuchungen des vorigen Teils zeigen sollen, durch eine weitgehende Ausdifferenzierung aus den gesellschaftlichen Sinn- und Erwartungszusammenhängen gekennzeichnet und haben eine hohe Autonomie der Selbstregelung gewonnen. Die tragenden Sinnebenen dieser Ausdifferenzierung sind die der Rollenbildung und der Normierung. Politische Systeme zeichnen sich deshalb durch ein hohes Maà an Rollentrennung und an Eigenart ihrer Normen und Rationalitätskriterien aus, die auf eine spezifisch politische Funktion bezogen sind und nicht ohne weiteres in andere Bereiche der Gesellschaft verpflanzt werden können.
Im Bereich der bürokratischen Verwaltung liegt diese Art Eigenständigkeit offen zutage. Auch die politische Herrschaft ist als absolute, souveräne Herrschaft unter diesen Gesichtspunkten diskutiert worden. Weniger gilt dies schon für die politischen Prozesse im ganzen, die vorwiegend als Repräsentation gesellschaftlicher Kräfte, also im Sinne von Weiterleitung und Sinnzusammenhang und nicht als Trennprozesse, erörtert worden sind. Am wenigsten sichtbar geworden ist die funktionale Differenzierung und Autonomsetzung in dem Bereich, den wir mit dem Begriff der Publikumsrollen meinen. Weder die angelsächsische Unterscheidung von government und civil society noch die deutsche Unterscheidung von Staat und Gesellschaft hat diesem Phänomen besonderer politisch-administrativer Publikumsrollen gerecht werden können. Erst eine Theorie des politischen Systems, die sich im Gegensatz zur angelsächsischen Government-Konzeption auch auf das Publikum erstreckt, aber im Gegensatz zum deutschen Staatsbegriff das Publikum nur in Form von Rollen, nicht aber als Menschen, in das politische System einbezieht â erst diese Theorie erstellt einen begrifflichen Bezugsrahmen, in dem die Frage der Ausdifferenzierung und Autonomsetzung besonderer Publikumsrollen erörtert werden kann.
Dieses Phänomen der Ausdifferenzierung besonderer Publikumsrollen ist von der Tradition der politischen Wissenschaft übergangen worden. In den Staatsvertragslehren hatte man es zum Beispiel in eine zeitliche Unterscheidung von »vorher« und »nachher« aufgelöst: Individuen schlieÃen sich zu einem Publikum zusammen. Die liberale Theorie kam dann zu der merkwürdigen Auffassung, daà gerade die (lesenden, diskutierenden, kritisierenden) Privatleute das Publikum seien.[1] Die gleichzeitige Unterscheidung von Staat und Gesellschaft blieb theoretisch von der Verbandsvorstellung abhängig und vermochte ebenfalls keinen Einblick in die sich anbahnende Rollendifferenzierung zu vermitteln.
Daà man auf diese Weise an einem wichtigen Tatbestand vorüberging, hatte seinen Grund nicht nur in theoretischen Vorurteilen, sondern in der Sache selbst. Die Ausdifferenzierung geht hier weniger weit als in anderen Teilbereichen des politischen Systems. Dazu kommt, daà der Systemcharakter dieser Publikumsrollen in Zweifel gezogen werden kann, daà er zumindest weniger deutlich ausgebildet ist als etwa im Falle der Verwaltungsbürokratie. Die Publikumsrollen sind nicht ein System, jede für sich ist als Einzelrolle ein Kleinsystem, das sich im Verhältnis zu anderen Rollen des einzelnen relativ konstant zu halten vermag. Diese Invarianz zeigt sich zum Beispiel daran, daà der einzelne nach seiner Scheidung immer noch dieselbe Partei wählt, daà sozialer Aufstieg seine politischen Präferenzen und seinen Einfluà auf die Verwaltung unverändert läÃt, daà seine Eigentumsentwicklung sich nicht unmittelbar in politische Aktivität übersetzen läÃt. Solche Invarianzen sind jedoch, soweit sie überhaupt bestehen, gleichsam nur statistisch zu entdeckende Phänomene. Sie sind nicht so auffällig wie die konzentrierte Ãbermacht »absoluter« politischer Herrschaft, und sie fesseln auch nicht wie die Bürokratie als Landplage die Aufmerksamkeit.
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